Eisenbahn-Kurier zur ICE-Neubaustrecke und zum Fernverkehr über Jena
Der Eisenbahn-Kurier (EK) ist eine monatlich in Freiburg erscheinende Zeitschrift, die maßgeblich Entscheidungsträger und Mitarbeiter von Bahnbetrieben und der Bahnindustrie adressiert. Mit einer monatlichen Auflage von etwa 40.000 Exemplaren ist die Zeitschrift eine der auflagenstärksten und umfangreichsten über das Thema Eisenbahn in Deutschland. In Heft 11/2014 widmet sich der Chefredakteur Thomas Frister in seiner Kolumne der Neubaustrecke durch den Thüringer Wald und thematisiert auch die Frage des Fernverkehrs über die Saalbahn und Jena. Die Wiedergabe erfolgt mit freundlicher Genehmigung des EK-Verlages.
Eine NBS der Superlative
Seit dem 25. August steht die Oberleitung der 123 km langen Neubaustrecke (NBS) Erfurt – Leipzig/Halle (S) unter Spannung. Unlängst haben hier auch die Testfahrten begonnen, über die wir ab Seite 44 ff. berichten. Damit rückt die Inbetriebnahme des ersten Teils der wohl spektakulärsten deutschen ICE-Neubaustrecke näher. Das als „Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nr. 8“ (VDE) 1992 aus der Taufe gehobene Vorhaben ist zugleich eines der umstrittensten Projekte, auch wenn es heute vergleichsweise ruhig um das 10 Mrd.€ teure Gesamtvorhaben (Aus- und Neubaustrecke Berlin – Halle/Leipzig – Nürnberg) geworden ist. Die 1991 noch von der Deutschen Reichsbahn begonnenen Vorplanungen mündeten schließlich in das VDE-Projekt 8. Ende 2015 soll der Abschnitt Halle/Leipzig – Erfurt in Betrieb gehen, dem 2017 der Abschnitt Erfurt – Ebensfeld (–Nürnberg) folgen wird.
Ursprünglich sollten beide Neubaustrecken schon im Jahr 2000 in Betrieb gehen. Drei Jahre nach dem ersten Spatenstich (1996) verhängte der damalige Bundesverkehrsminister Müntefering (SPD) einen Baustopp, weil auf einmal Zweifel an der Wirtschaftlichkeit auftauchten. Doch die lösten sich trotz knapper Kassen plötzlich wieder auf. Nach dem Weiterbau flammte nochmals der alte Streit über Sinn und Unsinn der Streckenführung und über mögliche Alternativvarianten ergebnislos auf. Die besonders von Thüringen favorisierte Trassenführung mit dem neuen ICE-Knoten Erfurt, der Landeshauptstadt des Freistaates, wird den Eisenbahnverkehr in Mitteldeutschland erheblich verändern.
Die 107 und 123 km langen Neubauabschnitte sind allein wegen der zahlreichen Brücken und Tunnel Eisenbahnstrecken der Superlative. Aktuell ist das Vorhaben neben „Stuttgart 21“ und der im Bau befindlichen NBS Ulm –Wendlingen (60 km) das derzeit letzte Großprojekt dieser Art über eine vergleichsweise lange Distanz (230 km). Die Anzahl der Brücken und Tunnel ist natürlich bemerkenswert: Knapp ein Viertel der 230 km langen Neubaustrecke führt über 35 Brücken (26 km Länge) und durch 25 Tunnel (56 km Länge).
Die Inbetriebnahmen 2015 und 2017 werden den Fernverkehr in der Mitte Deutschlands neu ordnen. Thüringen will deshalb – vereinfacht ausgedrückt – mit schnellen Nahverkehrszügen alle anderen Landesteile an den neuen ICE-Knoten anschließen. Das wird in den von Erfurt entlegenen Regionen kritisch gesehen, weil die Fokussierung auf den Knoten Erfurt für Fahrgäste im Norden und Osten des Freistaates Nachteile bringt: längere Entfernungen und damit höhere Preise ohne wirklichen Zeitgewinn im Einzelfall.
Verlierer sind u.a. die Städte auf der Saalbahn und hier besonders Jena, die durch die hier angesiedelte Wirtschaft, Forschung und Ausbildung besondere Ambitionen bei der Verkehrsanbindung hat. Den stündlichen ICE-Takt gibt es dann nicht mehr. Ein Bündnis für Fernverkehr kämpft seitdem gegen das drohende Schicksal der Abkopplung vom Fernverkehr. Die wird aber kommen. Nachdem es die Politiker der Universitätsstadt in den Jahren der Planung und des Baubeginns wohl verschlafen haben, die drohenden Folgen einer NBS durch den Thüringer Wald zu erkennen (kaum Eisenbahn gefahren?), scheint es nun zu spät zu sein. Der jüngste Vorschlag aus dem Bundesverkehrsministerium, die Saalbahn in eine neue „InterRegio“-Verbindung zwischen Berlin und Nürnberg einzubinden, mag ja gut gemeint sein. Ob man in Berlin schon wieder vergessen hat, dass seit der Bahnreform die Eigenwirtschaftlichkeit des Fernverkehrs festgeschrieben ist? Die DB wird es nicht tun – warum sollte sie sich Konkurrenz machen – und andere Betreiber werden es ohne Zuschüsse nicht tun können. Eine Mischfinanzierung soll es nun richten, über die man sicher heftig streiten wird.
Ein anderer Aspekt beider NBS dürfte aber künftige Generationen beschäftigen: Weil Bauwerke aus Beton nur eine begrenzte Lebensdauer haben, werden irgendwann in 60, 70 oder 80 Jahren mehr oder weniger zeitversetzt die 25 Tunnel und 35 Brücken in den Fokus des Betreibers geraten. Da in unserem Land aber schon heute wegen Unterfinanzierung zahlreiche Brücken auf Eisenbahnstrecken und Autobahnen „zerbröseln“, darf man die Generation unserer Ururenkel nicht beneiden, sofern sich die Verkehrspolitik nicht ändert. Dazu passt die jüngste Meldung vom September, dass 1 Mrd. € zusätzlich bereitgestellte Mittel gerade mal für die Erneuerung von 78 Autobahnbrücken reichen. Für die Verantwortlichen der NBS dürfte das kein Problem mehr sein: Wenn der große Sanierungsfall eintritt, wird es sie nicht mehr geben. Da fehlt bloß noch in der Eröffnungsrede das zur inhaltsleeren Worthülse verkommene Modewort von der „Nachhaltigkeit“…