Verantwortung für den Fernverkehr

Wer ist eigentlich für den Fernverkehr zuständig? Wer entscheidet, wo ein Fernzug fährt und wie oft? Wer nimmt außerdem Einfluss oder kann Einfluss nehmen? Nach der gesetzlichen und organisatorischen Neuordnung der bundeseigenen Eisenbahnen in Deutschland durch das 1994 in Kraft getretene Eisenbahnneuordnungsgesetz sind die Antworten auf diese Fragen komplizierter geworden.

Bund

Grundsätzlich ist der Bund für den Schienenpersonenfernverkehr (SPFV) zuständig. Absatz 4, Satz 1 des Grundgesetz-Artikels 87e lautet:

Der Bund gewährleistet, dass dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz, soweit diese nicht den Schienenpersonennahverkehr betreffen, Rechnung getragen wird. Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt.
[http://dejure.org/gesetze/GG/87e.html]

Der Bund ist demnach nicht nur verantwortlich für eine ausreichende Schieneninfrastruktur, sondern auch dafür, auf dieser Infrastruktur Verkehrsangebote vorzuhalten, soweit es sich, wie beim Fernverkehr, nicht um Nahverkehr handelt. Dabei muss dem Allgemeinwohl und den Verkehrsbedürfnissen Rechnung getragen werden.

 

Im Fernverkehr kommt der Bund dieser Gewährleistungspflicht nicht wie im Grundgesetz vorgesehen nach. Ein Bundesgesetz zu Verkehrsangeboten auf dem Schienennetz wurde bis heute, nahezu ein Vierteljahrhundert nach der Novellierung des Grundgesetzes, nicht beschlossen. Stattdessen überlässt der Bund die Fernverkehrsangebote dem Markt. Diese werden, da ein Wettbewerb wegen der hohen Markteintrittsbarrieren und Risiken nicht in Gang kommt, noch immer nahezu ausschließlich von der bundeseigenen DB Fernverkehr AG erbracht, wobei nach vorherrschender Wirtschaftslogik Renditeerwartungen die Angebotsgestaltung weit stärker prägen als Verkehrsbedürfnisse und Allgemeinwohl. Weder in die Angebote der Deutschen Bahn noch in die anderer Marktteilnehmer greift der Bund (spürbar, transparent) regelnd ein und finanziert sie auch nicht (direkt, wissentlich oder öffentlich). Die Folge ist ein in der deutschen Geschichte beispielloser Rückzug des Fernverkehrs aus der Fläche und die Konzentration des verbleibenden Angebots auf wenige Magistralen. Selbst Großstädte wie Mönchengladbach und Chemnitz mit rund einer Viertelmillion Einwohnern werden heute, legt man anstelle der fehlenden Legaldefinition einen marktüblichen Qualitätsanspruch zugrunde, von keinem einzigen Fernzug mehr angefahren.

 

Der Bund ist in der Verantwortung, die Vorgaben des Grundgesetzes zu erfüllen. Nur er kann für einen Fernverkehr sorgen, der die zentrale verfassungsrechtliche Leitvorstellung von der gleichmäßigen Entwicklung der Teilräume zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse für alle Bürger erfüllt, indem er alle Regionen Deutschlands erschließt. Und solange er insgesamt am System Bahn festhält (also z. B. in die Infrastruktur investiert), muss er auch ein Interesse an einem insgesamt mindestens volkswirtschaftlich rentablen Fernverkehr haben. Denn sonst drohen am Ende im ganzen Land vom Schienenpersonenfernverkehr abgekoppelte Gebiete und nutzlose Investitionen wie der für 24 Millionen Euro neu errichtete Fernbahnhof Jena Paradies, an dem nur wenige Jahre nach seinem Bau kaum noch Fernzüge halten.

 

Siehe auch: Wo bleibt die Verantwortung des Bundes für den Fernverkehr?

Land

Die Bundesländer, so auch der Freistaat Thüringen, haben nach aktueller Rechtslage keine Entscheidungsbefugnis über den Fernverkehr. Sie haben aber Einflussmöglichkeiten. Diese bestehen zunächst in politischer Einflussnahme auf Bund und Deutsche Bahn AG, reduzieren sich aber nicht darauf. So kann zum Beispiel über die (Mit-)Finanzierung von Strecken- und Bahnhofsausbauten, den Einkauf der Anerkennung von Nahverkehrsfahrscheinen (landläufig häufig als "mischfinanzierter Fernverkehr" bezeichnet) und über die Anschlussgestaltung zwischen Nah- und Fernverkehr (über die Bestellung des Nahverkehrs entscheiden die Länder) auch in der Praxis erheblicher Einfluss auf Fernverkehrsangebote genommen werden, wenn der politische Wille dazu besteht.

 

Die Neubaustrecke durch den Thüringer Wald, die der Grund für den Entfall des einst guten Fernverkehrsangebotes in Jena ist, kam nicht zuletzt aufgrund erheblichen Drucks der seit der Wende amtierenden Thüringer Landesregierungen und der Konzentration fast aller verfügbaren Förder- und Finanzmittel auf diese Strecke zustande. Eine schwache Verkehrspolitik für Ostthüringen und die Ausrichtung des Thüringer Nahverkehrsnetzes auf den Knoten Erfurt haben das Erreichbarkeitsproblem Jenas zusätzlich verschärft. Seit 2018 kann man von Erfurt aus in 30 Minuten in Halle, in 45 Minuten in Leipzig und in 80 Minuten in Nürnberg sein; von Jena erreicht man diese Ziele trotz gleicher Entfernung nun nur noch in 60, 70, und 120 Minuten. In der Landeshauptstadt verkehren seit 2019 über 100 tägliche ICE, mit denen die Erfurter alle wichtigen deutschen Metropolen und Flughäfen umsteigefrei und schnell erreichen können (und zusätzlich steht ein vom Land hochsubventionierter Flughafen mit weiteren Direktverbindungen als Alternative zur Verfügung), während in Jena mit je einem Zugpaar nach Berlin/Hamburg, Nürnberg/Karlsruhe und zwei Zugpaaren nach Köln/Düsseldorf nur noch ein Minimalangebot besteht und auch mit dem vom Land bestellten Regionalverkehr nur noch eine Handvoll Mittel- und Großstädte und keiner der wichtigen Großflughäfen auf direktem Wege erreicht werden können. Das Argument, man müsse Jena nur schnell genug an Erfurt anbinden, ist ein Scheinargument: Der Regionalverkehrsvorlauf, die Umsteigezeit und ggf. der Umweg machen jede Verbindung langsamer, störanfälliger, teurer und somit unattraktiver. Ein derart starkes räumliches und strukturelles Ungleichgewicht zwischen den zwei größten Städten eines Bundeslandes dürfte in Deutschland beispiellos sein und für eines sorgt es ganz sicher nicht: gleichwertige Lebensverhältnisse und gute Entwicklungsperspektiven für Jena.

 

Auch wenn der Freistaat Thüringen nicht für den Fernverkehr zuständig ist – er hat Handlungsmöglichkeiten. Und er ist dafür verantwortlich, sich für alle Bürger und Städte einzusetzen, muss also auch die spezielle Nachfragesituation von Jena berücksichtigen. Immerhin hat die aktuelle Landesregierung im November 2017 den Handlungsbedarf anerkannt und angekündigt, Jena zum IC-Knoten ausbauen zu wollen. Welche realistischen Möglichkeiten zur Verbesserung der Fernanbindung Jenas nach über zwei Jahrzehnten Vernachlässigung noch bestehen, werden die Untersuchungen der kommenden Monate zeigen.

Aufgabenträger SPNV (NVS)

Die sogenannten Aufgabenträger des SPNV sind die Bestellerorganisationen, die in Deutschland gemäß dem Regionalisierungsgesetz den Schienenpersonennahverkehr (SPNV) im Auftrag der Bundesländer planen und in Auftrag geben. Sie haben wie die Länder selbst keinen direkten, aber mittelbaren Einfluss auf den Fernverkehr. In Thüringen ist der zuständige Aufgabenträger die Nahverkehrsservicegesellschaft Thüringen mbH (NVS), eine Tochtergesellschaft des Freistaats Thüringen.

 

Auf die Einstellung von Fernverkehrsverbindungen der Deutschen Bahn haben die Aufgabenträger der Länder in der Vergangenheit stets ähnlich reagiert. In der Regel wurden Regionalverkehrsleistungen als Ersatz bestellt, die nur in den seltensten Fällen, wie dem „Arriva-Länderbahn-Express“ (ALEX) der Bayerischen Eisenbahngesellschaft (BEG), eine annährende Fernverkehrsqualität erreichten. Meistens jedoch blieben diese Ersatzlösungen aus Kostengründen weit hinter der Qualität der im Fernverkehr eingesetzten Fahrzeuge zurück. Deswegen gehen Aufgabenträger auch andere Wege. So haben beispielsweise die Verkehrsgesellschaft Mecklenburg-Vorpommern (VMV) für die Strecke Rostock - Stralsund und die Landesnahverkehrsgesellschaft Niedersachsen (LNVG) für die Strecke Bremen - Norddeich mit der DB Fernverkehr AG Abkommen über die tarifliche Öffnung von Fernverkehrszügen zur Nutzung durch Nahverkehrskunden getroffen und damit Fernverkehrszüge gesichert. Diese Leistungen werden auch als mischfinanzierter Fernverkehr bezeichnet, juristisch handelt es sich um den Einkauf der Anerkennung von Nahverkehrsfahrscheinen. Aus Sicht der Fahrgäste sind diese Züge eine attraktive Lösung. Der Fernverkehrskunde bekommt weiterhin einen der Reisedauer angemessenen Reisekomfort, kann umsteigefrei reisen und ggf. Sitzplätze reservieren, der Nahverkehrskunde kann zum Nahverkehrspreis Fernverkehrskomfort nutzen. Auch für die Aufgabenträger rechnet sich das: Die Regionalverkehrsleistungen müsste er alleine finanzieren, den mischfinanzierten Fernverkehr zahlt er nur anteilig.

 

Die NVS hat auf die Einstellung der Fernverkehrsleistungen auf der Saalbahn nur konventionell mit der Vergabe von Regionalverkehrsleistungen in die nächsten SPFV-Knoten reagiert; das Modell mischfinanzierten Fernverkehrs soll jedoch auf der Mitte-Deutschland-Verbindung angewendet werden.

Deutsche Bahn

Der deutsche Schienenpersonenfernverkehr (SPFV) wird mit einem Marktanteil von über 99 Prozent nahezu ausschließlich von der DB Fernverkehr AG erbracht. Sie ist eine hundertprozentige Tochter der DB Mobility Logistics AG, die sich ihrerseits im Alleinbesitz der Deutschen Bahn AG befindet und innerhalb des DB Konzerns für die Angebotsplanung und -durchführung des Personenfernverkehrs zuständig ist. Als bundeseigenes Unternehmen ist sie zwar politisch beeinflussbar und nimmt zur Vermeidung größerer politischer Interventionen in gewissem Rahmen noch Rücksicht auf Bedürfnisse des Allgemeinwohls; dennoch prägen Renditeerwartungen die Angebotsgestaltung weit stärker. Dies hat vor allem im Osten Deutschlands zu einem beispiellosen Rückzug des Fernverkehrs aus der Fläche und zur Konzentration des verbleibenden Angebots auf wenige Magistralen geführt.

Um den absehbaren weiteren Niedergang des Fernverkehrs aufzuhalten, hat die Deutsche Bahn im Frühjahr 2015 eine Kundenoffensive angekündigt, in deren Rahmen bis 2030 ein massiver Ausbau des Fernverkehrsangebots auch in der Fläche stattfinden soll, von der auch Jena profitieren würde. Nicht zuletzt im Hinblick auf den sehr langen Realisierungszeitraum bleibt abzuwarten, ob das Konzept so umgesetzt werden kann.

"Private" (nichtbundeseigene) Eisenbahnverkehrsunternehmen

Durch die Liberalisierung des Fernverkehrs im Zuge der Bahnreform besteht die Möglichkeit, dass andere Eisenbahnverkehrsunternehmen als die Deutsche Bahn Fernverkehrsleistungen auf der Schiene anbieten. Diese Unternehmen unterliegen keinen gesetzlichen Vorgaben bezüglich Allgemeinwohl und Verkehrsnachfrage und sind in der Gestaltung ihrer Fernverkehrsprodukte frei.

 

Grundsätzlich ist es daher möglich, dass ein solches Unternehmen auf die Idee kommt, Fernverkehr nach oder über Jena anzubieten. Jedoch behindern hohe Markteintrittshürden und Risiken bei geringen Gewinnspannen einen nennenswerten Wettbewerb im Fernverkehr auf der Schiene. Bisher gab es mit Veolia (Interconnex), HKX und Locomore nur drei Unternehmen, die tatsächlich überhaupt ein (mittlerweile wieder eingestelltes) Tagesfernzugangebot auf die Schiene gebracht haben. Der Wettbewerber derschnellzug.de ist seit 2016 über Ankündigungen nicht hinausgekommen. Gegenwärtig wagt das Unternehmen Flixtrain mit den Resten von HKX und Locomore einen neuen Versuch, betreibt jedoch nur Rosinenpickerei mit Einzelzügen auf Hauptnachfragestrecken.

 

Jena kann daher nicht auf die vermeintliche Rentabilität des Fernverkehrs in dem Sinne hoffen, dass ein privates Eisenbahnverkehrsunternehmen die "Lücke" von DB Fernverkehr füllt und Taktzüge über die Jenaer Strecken fährt. Im Gegenteil verschärfen diese privaten Unternehmen das Problem der mangelhaften Fernverkehrsversorgung abseits der Hauptrouten eher noch, weil sie mit Einzelzügen Rosinenpickerei auf den Hauptnachfragstrecken betreiben, womit dem Fernverkehr der DB Einnahmen entzogen werden, die für den Betrieb auf Nebenfernstrecken eingesetzt werden könnten, und indem sie der Öffentlichkeit suggerieren, dass der Wettbewerb im Fernverkehr doch irgendwie funktioniert. Was er aber eben nicht tut. Aus den langjährigen Mißerfolgserfahrungen und dem Wesen des Begriffs "Synergieeffekt" muss daher endlich die verkehrspolitische Erkenntnis folgen, dass es nur ein rentables Fernverkehrsnetz in Deutschland geben kann. Es gibt ja auch nur ein Infrastrukturnetz, auf dem dieses Fernverkehrsnetz stattfinden kann. So wie die deutsche Regierung mittlerweile erkannt hat, dass DB Netz im Prinzip nicht "privatisiert" werden kann, weil die Eisenbahninfrastruktur ein zwangsläufiges Monopol ist, trifft das gleichermaßen auf das Fernverkehrsnetz zu. Für dieses könnte man, um die Vorteile des Wettbewerbs mitzunehmen - ebenso wie bei den Nahverkehrsleistungen - in regelmäßigen Zeiträumen Betreiber ausschreiben, und bräuchte trotz besserer Netzabdeckung voraussichtlich keine oder nur geringe direkte Zuschüsse zu zahlen.